Verwendung innerhalb der Theorie der Sozialen Gerechtigkeit
Quelle: Sensoy, Ozlem und Robin DiAngelo: Is Everyone Really Equal?: An Introduction to Key Concepts in Social Justice Education, first edition. Teacher’s College Press: New York, 2012, S. 7.
Ein auf kritischer Theorie basierender Ansatz stellt die Idee in Frage, dass „Objektivität“ erstrebenswert oder überhaupt möglich sei. Der Ausdruck, der benutzt wird, um diese Denkweise über Wissen zu beschreiben, ist, dass Wissen sozial konstruiert sei. Wenn wir auf Wissen als sozial konstruiert hinweisen, meinen wir, dass Wissen die Werte und Interessen derer widerspiegelt, die es produzieren. Dieser Ausdruck umfasst das Verständnis, dass alle Inhalte und alle Möglichkeiten des Wissens mit dem sozialen Kontext verbunden sind.
Im Verständnis von Wissen als sozial konstruiert leiten kritische Lehrer die Schüler entlang mindestens dreier Dimensionen an:
- in kritischer Analyse von Wissensansprüchen, die als neutral, allgemeingültig und „objektiv“ präsentiert werden, zum Beispiel Christoph Kolumbus’ „Entdeckung“ Amerikas
- in kritischer Selbstreflexion über ihre eigene soziale Perspektive und Subjektivität, zum Beispiel, wie der Kolumbus-Mythos und die ethnische (racial) Identität des Lehrers beeinflussen, was dieser über die Geschichte Nordamerikas lehrt
- in der Entwicklung der Fähigkeiten, ideologische Herrschaft zu sehen, zu analysieren und herauszufordern, zum Beispiel, existierende Lehrpläne oder Curricula neu zu schreiben, damit diese die Komplexitäten des Mythos der Entdeckung und der Beteiligung an diesen Mythen widerspiegeln
In diesen Weisen führen Lehrer, die aus einer kritischen Perspektive lehren, ihre Schüler durch die Untersuchung der Beziehung zwischen ihren Referenzrahmen und dem Wissen, das sie akzeptieren und reproduzieren.
Kommentar des Neuen Diskurses
„Kritisch“ im Sinn der Sozialen Gerechtigkeit zu sein, bedeutet, sich (systemischer) Macht bewusst zu sein und zu widersetzen sowie etablierte Systeme und Denkweisen zu stören (siehe auch: kritisches Bewusstsein). Dies wird als eine Form des Aktivismus verstanden, um systemische Unterdrückung zu beenden, indem man alle Systeme kritisiert und sie untergräbt (siehe auch: unterwandern, dekonstruieren, stören, auseinandernehmen, Revolution). Es ist nicht dasselbe „kritisch“, welches uns im Begriff „kritisches Denken“ begegnet, und tatsächlich bedeutet es etwas Spezifischeres (siehe oben).
Wenn auch sein letztendlicher Ursprung am deutschen Philosophen Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft festgemacht werden kann, bezieht sich der kritische Ansatz letztlich hauptsächlich auf Karl Marx. Marx sah Kritik des Systems selbst als den wesentlichen ersten Schritt in der Neugestaltung der Welt: „[I]ch meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und eben so wenig vor dem Conflikte mit den vorhandenen Mächten.“ (Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Ein_Briefwechsel_von_1843). Deshalb ist Kritik in dem Sinn, wie sie von kritischen Theorien, demzufolge in der Sozialen Gerechtigkeit, benutzt wird, destruktiv statt konstruktiv, und ihre Mittel und Ziele sind höchst interpretativ und tendieren dazu, mehrdeutig zu sein. Sie ist mehr am Problematisieren interessiert – das heißt, Weisen zu finden, in denen das System mangelhaft ist und darüber Lärm zu machen, vernünftig oder nicht – als sie es an irgendeiner anderen identifizierbaren Aktivität ist, insbesondere daran, etwas Konstruktives aufzubauen.
Die Mehrdeutigkeit des Ziels bei kritischen Methoden (sofern man nicht schlecht informiertes, zynisches und pessimistisches Beschweren, generelle Unzufriedenheit und eine unzureichend definierte und fortlaufende Revolution als ein Ziel zählt), hat sich unter den Postmodernisten und demzufolge unter der gegenwärtigen Forschung der Sozialen Gerechtigkeit, die sich in größerem Ausmaß auf Postmodernismus als auf Marxismus bezieht (siehe auch: Foucault’sch und Derrida’sch), nur intensiviert. Während die Marxisten Wissen als etwas sahen, das als Ergebnis des kritischen Prozesses erreicht werden konnte, sehen die Postmodernisten und die Forscher der Sozialen Gerechtigkeit Wissen als plural und relational an, als wissenden Vertreter der gelebten Erfahrung. Wahrheit ist kein Ziel der kritischen Methode, insbesondere postmoderner kritischer Methoden, da dort geglaubt wird, dass es viele gleichrangige Wahrheiten gebe, jede ein Werk der Kultur, die es produziert (siehe auch: Wissen, Wissensformen und Kulturrelativismus). Die Wahrheiten, an denen Fürsprecher der Kritischen Sozialen Gerechtigkeit am meisten interessiert sind, sind jene, die als zugehörig zu unterdrückten und marginalisierten Personen verstanden werden, deren Wahrheiten vernachlässigt, ausgeschlossen oder dominiert worden seien (siehe auch: Hegemonie und Positivismus).
Folglich streben „kritische“ Ansätze es an, Texte und Situationen durch die Linse von Machtdynamiken zu interpretieren und die inhärente Unterdrückung innerhalb des Systems (insbesondere der „Systeme“ des Liberalismus, der Wissenschaft und der Meritokratie) aufzudecken. Die Existenz dieser systemischen Unterdrückung halten sie für eine axiomatische Annahme: Unterdrückung gilt als allgegenwärtig, auch wenn sie nicht ersichtlich ist, und Interpretationen gemäß Der Theorie, die dies enthüllen, werden als wichtig und autoritativ interpretiert. Das ist bemerkenswerterweise nicht dasselbe wie wahr.
Kritische Ansätze sehen häufig wie Pedanterie aus, um etwas zu finden, an dem man Anstoß nehmen kann (siehe auch: Close reading und Diskursanalyse). Sie scheinen Rasse, Geschlecht und andere Identitätsmerkmale in alles hineinzulesen, auch wenn diese Merkmale nicht relevant scheinen, da davon ausgegangen wird, dass sie stets gegenwärtig und stets relevant seien. Wie bemerkt tendieren diese Methoden dazu, höchst interpretativ zu sein, und sie lassen oft keine richtige Weise übrig, irgendetwas zu tun – und das ist vielmehr der Punkt. Es ist schließlich die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden (ob man jetzt die involvierten Details, Parameter, Beschränkungen oder Kompromisse versteht oder nicht).
Manche Menschen denken, dass der Begriff „kritisch“ nicht für kritische Theorien (oder Kritische Theorie, oder „Kritische Soziale Gerechtigkeit“, wie die Soziale Gerechtigkeit manchmal genannt wird) angewandt werden sollte, da sie Kritik nicht willkommen heißen. Dies verkennt die Idee von „kritisch“ als formalem Ausdruck. Es ist auch eine Weise, in welcher der Ausdruck „kritische Theorie“ eine Art Trojanisches Pferd ist. Es hat auch den Effekt, Theorie zu konzentrieren, statt sie zu korrigieren, wo sie fehlschlägt.
Kritische Theorien seien in der Tat endlos selbstkritisch, wie ihre Unterstützer einem bei jeder Gelegenheit erzählen werden. Im formalen Sinn bedeutet „kritisch“, nach den zu wenig untersuchten, problematischen Machtdynamiken in jedem System, einschließlich der kritischen Theorie selbst, so, wie sie von der Theorie definiert sind, zu suchen. Dies bedeutet, dass die Theorie endlos daran interessiert ist, wie sie problematisch ist in den Weisen, in denen die Theorie Problematik definiert. Deswegen ist die Theorie nicht kritisch (in irgendeinem Sinn, aber insbesondere im Sinn des allgemeinen Sprachgebrauchs) gegenüber den zugrundliegenden Annahmen der Theorie über Machtdynamiken, da sie diese nicht bezweifelt, sondern ist stattdessen kritisch gegenüber ihrer eigenen Hinlänglichkeit, die eigenen versteckten Verzerrungen aufzuspüren, welche angeblich diese Machtdynamiken unterstützen. Wieder sind diese Verzerrungen diejenigen, die durch die Theorie definiert sind, und nicht notwendigerweise diejenigen, die sie tatsächlich (kritisch, in irgendeinem Sinn des Wortes) untersuchen sollte.
Verwandte Begriffe
Bias; Close reading; Critical consciousness; Critical Race Theory; Critical Pedagogy; Critical Theory; Cultural relativism; Deconstruction; Derridean; Discourse analysis; Dismantle; Disrupt; Exclusion; Foucauldian; Gender; Hegemony; Identity; Knowledge(s); Liberalism; Lived experience; Marginalized; Marxian; Marxism; Meritocracy; Neo-Marxism; Objectivity; Oppression; Position; Post-Marxism; Postmodern; Power (systemic); Problematic; Problematize; Race; Revolution; Science; Social construction; Social constructivism; Social Justice; Strategic resistance; Subjectivity; System, the; Theory; Truth; Value-free; Ways of knowing
Zusätzliche Beispiele
Quelle: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/0145935X.2017.1327692
Kritische Forschung ist weniger ein Ansatz und mehr eine Einladung; sie ist eine Weise, über Forschung als Widerstandsform zu denken. Wenn auch Widerstand üblicherweise assoziiert wird mit Tagespolitik, mit greifbaren Formen der Unterdrückung oder mit nuancierten Formen der Manipulation, glauben wir, dass wir die Produktion der Orthodoxie mit Widerstand gegenüber systemerhaltenden Wahrheiten ausgleichen müssen. Also laden wir Sie ein, Ihre Forschung einzureichen, die nicht in ihren Schlussfolgerungen kritisch ist, sondern in ihren Ausgangspunkten: Ist Bindung wirklich der Rahmen, in dem wir die gesamte Lebensform der Jugend sehen müssen? Ist Trauma ein universelles Konzept? Erklärt Resilienz etwas im Besonderen oder ist sie eine Art, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozesse zu identifizieren, welche eine koloniale, weiße, heterosexistische und ableistische Gesellschaftsordnung reproduzieren? Wie wirken sich binäre Konstrukte von Daseins- und Lebensformen auf die volle Diversität der Menschheit aus? Sind wir entweder männlich oder weiblich? Sind wir rassifiziert oder weiß? Sind wir religiös oder atheistisch? Sind wir reich oder arm? Sind wir Täter oder Opfer?
Kritische Forschung kann vielleicht auch in einer anderen Weise charakterisiert werden. Sie ist eine Weise, Wissen anzugehen, das inhärent nicht sicher ist, immer flüssig, in den gelebten Erfahrungen von Menschen mit einer Vielzahl von Lebenskontexten verwurzelt und informiert durch Dialog, Beziehung und Verbindung mit denen, die einen Anteil haben am Wissen, das generiert wird. Kritische Forschung ist nicht darauf aus, Wahrheit zu erschaffen; sie zielt darauf, den Moment zu bedenken und freut sich auf eine Weise, jenen Moment zu sehen in Weisen, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Letztlich lädt sie in den Forschungsprozess eine aktive Identifikation von und Beschäftigung mit Macht ein, mit den sozialen Systemen und Strukturen, Ideologien und Paradigmen, die den Status quo aufrechterhalten.
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Revisionsdatum: 8/18/20