Fast jeder hat eine Woke Belastungsgrenze. Einen Punkt des maximalen Woke. Oder zumindest sollte man diese haben.
Es sollte immer eine Linie geben, die, wenn sie überschritten wird, anzeigt, dass die scheinbar gute oder noble Sache, die man aktuell unterstützt, versauert, oder sogar schon komplett verdorben ist. Wir sind alle mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vertraut (ich mache mir vor, dies zu glauben). Bestimmte Eigenschaften der Woke Ideologie, wenn auch nur am extremen Aussenrand, zeigen erschreckendes Potential zur Entfaltung eines totalitären Alptraums vor unseren Augen. Besonders deshalb, weil so viele gute und anständige Menschen diese Ideologie plötzlich so energisch (und verbissen) unterstützen. Selbst die Geschwindigkeit, mit welcher sie sich verbreitet, ist desorientierend und daher alarmierend.
Die Wichtigkeit, eine “Woke Belastungsgrenze” zu etablieren, wurde mir kürzlich klar, als ich die bizarren Verteidigungen unserer derzeitigen Ära mit einem genialen Freund diskutierte. Wir sprachen über die Menschen in unserem Leben, die ihre Woke Belastungsgrenzen erreicht haben und über diejenigen, die sie nicht erreicht haben. Mir ging auf, dass viele der Menschen in meinem Leben, die mit den Exzessen der Woke (Critical Social Justice) Bewegung weiterhin sympathisieren, oder sie geradezu verleugnen, sich nicht genug mit der Möglichkeit beschäftigt haben, dass es nicht ganz die noble und notwendige Sache ist, die sie vorgibt zu sein.
Mir wurde klar, wie hilfreich es sein kann, anstatt mit Woke-wohlgesinnten Freunden zu streiten, diese dazu zu ermutigen, ihre nicht-verhandelbaren Grenzen zu ermitteln und zu benennen. Diese Grenzen werden – und sollten – unterschiedlich aussehen. Aber während die Lage zunehmend extremer wird, werden die Grenzen mit zunehmender Gewissheit überschritten. Um zu wissen, wann die Grenze überschritten wurde, muss man allerdings wissen, dass es eine Grenze gibt und wo diese liegt.
Daher ist die zu stellende Frage einfach genug: Was würde Dich dazu bringen zu beschliessen, dass die Woke-Bewegung zu weit gegangen ist?
Warum sollte man dies fragen? Zwei Gründe, angesichts der Tatsache wie ausgeufert diese Bewegung bereits ist. Erstens, Menschen sollten dazu angehalten werden, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass die Möglichkeit besteht, dass die Dinge zu weit gehen, oder dies bereits passiert ist. Zweitens, in solchen Umständen, wie es die heutigen zu werden drohen, sollte jeder zumindest eine vorläufige Grenze aufziehen, deren Überschreitung die eigenen aktuellen Prinzipien nicht zulassen. Und dies ist nötig, bevor man sie bereits überschritten hat und dann gezwungen ist zu vertreten, was man derzeit für nicht vertretbar hält.
Der einfache Schritt, jemanden dazu zu bringen, sich den eigenen Prinzipien zu verpflichten, bevor man sie entgleiten lässt, hat enorme Bedeutung und Nutzen, aufgrund der Art und Weise, wie unser moralisches Denken funktioniert. Wir tun dies durch post-hoc Rationalisierung – wir rechtfertigen uns nach der Handlung hinein in den Glauben, dass wir moralisch gehandelt haben, was oft bedeutet, dass wir die Grenze bereits überschritten haben. Besonders im sozialen Kontext, in dem Verantwortlichkeit eine Rolle spielt, macht eine Grenze, die man vorzeitig zieht, es einfacher diese Grenze zu sehen, klar und deutlich, und umso schwieriger, diese erst zu überschreiten und dies im Nachhinein zu rechtfertigen.
Realistischerweise sollte man nicht erwarten, dass eine solche Unterhaltung gut laufen wird. Sie könnte es natürlich, abhängig von dem jeweiligen Verhältnis, es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Unterhaltung mit Abwehr entgegengenommen wird und mit der Annahme, man hätte den Verstand verloren. Daher hier der Rat: Erwarte nicht, dass es gut läuft. Erwarte nicht, dass der andere seine Meinung ändert. Erwarte nicht, ernstgenommen zu werden. Wirf einfach nur die Frage auf, da wo sie zum Nachdenken zwingt.
Man muss und sollte das Thema nicht erzwingen. Wo man auf Ablehnung stösst, lohnt es sich nicht, in Streit zu verfallen und damit gar der Freundschaft zu schaden. Das ist auch gar nicht nötig. Es gibt keinen Grund etwas zu erzwingen. Man kann die Frage in den Raum werfen und es damit belassen. Die Frage wird das Gegenüber praktisch endlos beschäftigen, wenn es sich weigert, mitzuspielen, und das sollte man zulassen. Lass es arbeiten. Es ist wesentlich wichtiger, dass der Andere mit dem Thema ringt, als dass man eine Antwort erhält.
Andererseits möchte das Gegenüber vielleicht das Thema erkunden und sich damit beschäftigen. Umso besser.
Mein Freund und Ich diskutierten einige dieser Belastungsgrenzen, die für uns und unsere Bekannten überschritten wurden. Für mich war der Punkt irgendwo zwischen Zusehen, wie Personen des öffentlichen Lebens, die ich respektiere, unfaire, Hexenjagd-artige Predigten erhielten (mit falschen Bezichtigungen von Rassismus und Sexismus), der subversiven Manipulation von Sprache, und vor allem den schamlosen Angriffen auf die Wissenschaft, sowohl von Seiten der Aktivisten als auch der Akademiker rund um Critical Social Justice. Das ist bei mir vor ein paar Jahren geschehen. Für meinen Freund war es der unbestreitbare echte Rassismus und die unverhohlene Doppelmoral im Inneren des fast gesamten Woke Unternehmens. Für einige unserer Freunde war die öffentliche Verteidigung von Krawallen in der Woke-Sprache – wie etwa “whiteness is property (Weiss-sein ist Eigentum)”, daher ist es okay ein Geschäft niederzubrennen – der letzte Tropfen. Für wieder Andere war es das Gefühl, in die Rolle eines Verbündeten gedrängt zu werden, der niemals gut genug ist.
Natürlich höre ich auch von Leuten, für die war es das Abreißen von Statuen (unter anderem die von George Washington), oder Menschen, die ihre Jobs verlieren, Menschen, die Angst haben, ihren Job zu verlieren, “Shut down STEM (Einstampfen der Natur- u. technischen Wissenschaften)”, das Zerbrechen von Beziehungen (darunter insbesondere anderweitig solide gemischte Ehen) und eine Vielfalt weiterer klarer Signale, dass die moralische Panik und die darin aufgehenden schlechten Ideen, zu weit gegangen sind. Mehr und mehr Menschen sind der Meinung, dass das aufhören muss.
Die Frage an Dich ist deshalb: Was ist (oder war) deine Woke Belastungsgrenze? Die Frage an Deine Freunde ist die gleiche. Ich würde die Antworten gerne hören. Postet sie in den Kommentaren. Wo wurde die Grenze für Euch überschritten?
Selbst wenn die Unterhaltung nicht gut abläuft, schrecke nicht davor zurück, hierüber direkte Fragen zu stellen, denn es ist wichtig. Frage wenn nötig gezielt nach. Frag: Wessen Statue muss fallen? Im Ernst, welche ist der letzte Tropfen? Abraham Lincoln? Martin Luther King, Jr.? Welche? Welche Freiheit muss eingeschränkt werden? Ordentliche Gerichtsverfahren? Meinungsäusserung? Das Recht, keine grausame und aussergewöhnliche Strafe zu erdulden?
Frag: Wann ist genug, genug? Wer muss kaltgestellt (gecancelt) werden? Wer gefeuert? Wie viele Menschen müssen Ihren Lebensunterhalt verlieren? Wie offenkundig muss der Rassismus werden? Wie viele Menschen müssen sich in “Anti-rassistischen” Kampfsitzungen demütigen? Wer muss gedoxt werden? Wer zerstört? Zusammengeschlagen? Getötet? Braucht es ein öffentliches Lynchen? Oder bedarf es solcher Grauen, die wir glaubten, in den düsteren Kapiteln des zwanzigsten Jahrhunderts hinter uns gelassen zu haben? Wo ist die unüberschreitbare Grenze zwischen dem Hier und Drüben?
Diese Fragen müssen gestellt werden. Wir hatten das wahrhaftige Privileg, uns diese Fragen lange Zeit nicht stellen zu müssen und es scheint, dass wir vergessen haben. Jetzt müssen sie gestellt werden.
Für einen Freund liegt die Grenze bei “realer Gewalt”, was auch immer das in der heutigen Zeit bedeuten mag. Vielleicht ist es die Art Gewalt, für die die Medien keine Rechtfertigungen fabriziert. Vielleicht bedeutet es, das Feuerwaffen zum Einsatz kommen (die sprunghaft ansteigende Gewaltkriminalität ist jedoch scheinbar nicht beinhaltet). Zumindest ist es eine Grenze. Zumindest denkt er darüber nach. Ein Weiterer, ein Akademiker, sagte mir sein letzter Tropfen sei die offensichtliche Perversion seines eigenen akademischen Gebiets. Das ist ein wenig schwammig, aber zumindest ist es eine Grenze, und eine, die noch weit unter Gewalt liegt. Gewalt, so sagte er gar, wäre nicht akzeptabel und er ist bereits sehr beunruhigt über die Sachbeschädigung und das generelle Chaos. Zumindest denkt er darüber nach.
Vielleicht muss es auch persönlicher werden. Frag: Wo ist die Grenze? Müsste es an die eigene Person gehen? Müsste man erst persönlich als Rassist denunziert werden? Einer “AntiRassistischen” Kampfsitzung unterzogen werden? Feuerung? Müsste erst etwas zerstört werden, das einem lieb ist? Die eigene Familie? Die eigenen Kinder? Die eigene Karriere? Das eigene Hobby? Die eigene Leidenschaft? Was ist es? Was ist der Schritt zu weit? Wir müssen anfangen zu fragen und es spielt dabei keine grosse Rolle, ob die Belastungsgrenze eigennützig ist. Menschen müssen sich damit auseinandersetzen. Selbst wenn sie dabei nur an sich selbst oder die engsten Freunde und Familie denken können, zumindest denken sie darüber nach.
Für einen engen Freund von mir, der noch ziemlich Woke ist, aber bei Weitem nicht “bis aufs Ganze geht”, mussten wir sehr weit gehen, um eine absolute Grenze zu finden. Er hat eine. Sollten ich, oder andere Menschen, die ihm nahe stehen, glaubhafte Todesdrohungen erhalten, weil sie sich gegen Wokeness einsetzen, dann würde dies genügen (aber verdient das irgendwer?). Scheint mir ein wenig extrem, dass mein eigenes Leben auf dem Spiel stehen müsste, bevor er meint, dass sie Sache sicher ausser Kontrolle geraten ist, aber zumindest hat er eine Grenze. Zumindest denkt er darüber nach.
Diejenigen, die Du fragst, sollten jedoch in der Lage sein, eine Woke Belastungsgrenze zu finden und zu benennen und wenn nicht, sollten sie an dieser Stelle dazu gedrängt werden. Dies ist ernst. Sie müssen gefragt werden: was bedeutet es, dass Du Dir nicht vorstellen kannst, dass diese Entwicklung zu weit gehen könnte? Vielleicht bringt das keinen Anstoß zur Reflexion. Die “richtige Seite der Geschichte” ist letztendlich durchaus das öffentliche Wohl, aber selbst das ist etwas, dem man sich stellen muss, wenn es denn der Fall ist. Vielleicht ist wenigstens das etwas, das jemanden zum Nachdenken bringt.
Nochmals, das Ziel dieser Intervention ist es nicht, irgendwen dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern. Nicht einmal dazu, zu glauben, dass eventuell etwas Schreckliches vor sich geht, oder wahrscheinlich später passieren wird, oder auch nur in der aktuellen Lage plausibel ist. Es geht schlicht darum, sich mit den eigenen Prinzipien zu beschäftigen, bevor die tückischen Kräfte des motivierten Denkens einen irgendwann dazu bringen, zu entschuldigen, was man bis dato für unentschuldbar hält – zumindest bis es passiert.